Die Wiege des Chores – Nordrussland
In den Jahren vor dem ersten Weltkrieg kam Alexander Kresling, Apothekerssohn aus St. Petersburg, mit den sogenannten Altgläubigen in Berührung. Diese hatten im 17. Jahrhundert gegen die Kirchenreform des Patriarchen Nikon und die daraus gegründete Hierarchie von Zar und Klerus protestiert und waren daraufhin grausam verfolgt worden. In den abgelegensten Gebieten Russlands angesiedelt, bewahrten sie eine archaische Kultur, die im übrigen Russland verloren ging. Alexander Kresling lebte längere Zeit in diesen Dörfern und sammelte ihre Lieder, vor allem in den Altgläubigendörfern in Nordrussland. Nach der Oktoberrevolution kam er im Jahre 1921 nach Freiburg, wo er als Lektor für russische Sprache an der Universität arbeitete. Dabei schöpfte er aus diesem Liedschatz und begann, mit interessierten Studenten diese Lieder zu singen, und am 30. Januar 1930 gab der neu gegründete Russische Chor sein erstes Konzert. 47 Jahre lang dirigierte Alexander Kresling diesen Chor. Während dieser Zeit erfolgten viele Auftritte in Deutschland und im angrenzenden Ausland, und 15 Schallplatten wurden aufgenommen.
Gesungene Überlieferung – zuhören, was andere singen
Bisher trat der Chor vor allem in Freiburg und Süddeutschland auf, bereiste aber auch regelmäßig den übrigen Teil Deutschlands und die benachbarten Länder (Luxemburg, Frankreich, Schweiz). Fünf Chorreisen führten durch Nord- und Mittelitalien. Bei den Konzerten werden die Liedtexte in die jeweilige Landessprache übersetzt und erläutert, um dem Publikum ein tieferes Verständnis zu erleichtern.
Lebendige Liedbrücke statt konservierender Traditionspflege
Die Gorbatschow'schen Reformen ermöglichten im August 1991 die erste offizielle Konzertreise in der Sowjetunion. Auf Einladung der Universität Irkutsk und des burjatischen Kultusministeriums führte diese Reise die Freiburger Sängerinnen und Sänger ins ferne Sibirien. Neben den Städten Irkutsk und Ulan-Ude konnte der Chor dort auch die Dörfer der Semejskie-Altgläubigen in Transbaikalien nahe der mongolischen Grenze besuchen. Dieser Besuch erwies sich als folgenreich: in den darauffolgenden Jahren organisierte der Freiburger Chor die Gegenbesuche von drei sibirischen Chören, und es entstand daraus ein enger Kontakt mit dem Altgläubigen-Ensemble „Sudbinushka“ (Schicksalchen) aus Tarbagataj: die „Liedbrücke“. Lieder wurden ausgetauscht, es entstanden Freundschaften, und die Chorfreundschaft gipfelte im Herbst 1996 sogar in einer gemeinsamen Tournee der beiden Chöre durch ganz Deutschland.
Für unsere sibirischen Freunde ist diese Liedbrücke von großer Bedeutung: Ermutigung in einer Zeit allgemeinen Niederganges, die Wiederbelebung der eigenen Kultur – vor allem die geistlichen Volkslieder waren während der Stalinzeit faktisch ausgerottet worden – und neue Selbstachtung. Für die Freiburger Sängerinnen und Sänger bedeutet dieser Kontakt eine Bereicherung der eigenen Chorerfahrung, die Konfrontation mit dem ursprünglichen, kraftvollen Gesangsstil der eigentlichen Traditionsträger und Schutz vor selbstgefälligem Exotismus. Ein weiterer Pfeiler dieser Liedbrücke warein Treffen der beiden Chöre in Italien im Sommer 1999.
Im August 2000 brach wiederum der Freiburger Chor nach Sibirien auf: Die dreiwöchige Reise nach Irkutsk, nach Tarbagataj und Besuche zahlreicher Dörfer in Burjatien südlich des Baikalsees festigte die Freundschaften und ermöglichte neue Kontakte. Diese Verbindung soll auch in den nächsten Jahren durch Gegenbesuche weitergeführt und vertieft werden.